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Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt – Verantwortung für die Zukunft 

Ein ethischer Blick

In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein MIII in den Boetzelenhöfen an der Künkelstraße fand am 24. Mai 2025 ein Vortragsabend mit anschließender Diskussion statt. Unter dem Leitthema „Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt – Verantwortung für die Zukunft – ein ethischer Blick“ beleuchteten die Referierenden aus der Hans-Jonas-Gesellschaft unterschiedliche Perspektiven auf ethische, bildungspolitische und philosophische Zukunftsfragen.

Den Auftakt machte Karima Hajou mit einem Impulsvortrag zu den Fragen: „Was wollen wir den kommenden Generationen mitgeben? Welches Vermächtnis wollen wir ihnen hinterlassen?“ – zentrale Überlegungen zur Weitergabe von Werten und Verantwortlichkeiten an künftige Generationen. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen stand die Idee, Bildung nicht nur als reine Wissensvermittlung zu verstehen, sondern als ganzheitlichen Prozess, der junge Menschen zur Mitverantwortung und aktiven Gestaltung der Zukunft befähigt. Inspiriert vom Philosophen Roman Krznaric und dessen Werk „Der gute Vorfahr“ (2020) betonte Hajou die Notwendigkeit einer Bildung, die langfristiges Denken, Empathie und den Blick über die eigene Lebenszeit hinaus fördert. Ihr Appell: „Wir pflanzen heute Bäume, in deren Schatten vielleicht erst andere eines Tages sitzen werden, aber genau das ist unsere Aufgabe.“

Im anschließenden Vortrag vertiefte Till Hüttenberger ausführlich die Gedanken über die Verantwortung für die Zukunft sowie über Ethik im Zeitalter der Technik und angesichts der gegenwärtigen ökologischen Krise. Hans Jonas und Das Prinzip Verantwortung (1979) forderte eine Ethik, die die Zukunftsdimension in den Blick nimmt: Verantwortung gilt nicht nur gegenüber Geschichte und Gegenwart und den gegenwärtigen Mitmenschen, sondern auch gegenüber künftigen Generationen. Die technologische Zivilisation bringt neue Gefahren mit sich, globale Zerstörungspotenziale durch Technik (z. B. Atomkraft, Gentechnik, Künstliche Intelligenz) sowie die Erschöpfung natürlicher Ressourcen. Ein zentraler ethischer Imperativ von Jonas lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Vor der ethischen Frage steht jedoch eine noch grundlegendere: Wie ist langfristiges Denken in einer immer kurzlebigeren und gegenwartsfixierteren Welt möglich? Oder anders gefragt: Wie können wir Empathie gegenüber Menschen entwickeln, die noch nicht geboren sind?: 

Hier knüpft Roman Krznaric mit „Der gute Vorfahr“ (2020) an und führt Jonas‘ Pflichtethik durch die Idee der radikalen Empathie weiter: Zukunftsethik braucht als elementare Basis Mitgefühl mit den kommenden Generationen – und dieses braucht auf Langfristigkeit angelegtes Denken. Er beschreibt zwei im Menschen stets konkurrierende Denkweisen: das „Marshmallow-Gehirn“ (impulsiv, kurzfristig) und das „Eichel-Gehirn“ (langfristig, planend) und hält fest: Menschen sind evolutionär in der Lage, langfristig zu denken.
Krznaric schlägt sechs Wege zu langfristigem Denken vor:

  1. Tiefenzeit wahrnehmen – Staunen über die Zeitdimension des Universums;
  2. Vermächtnisdenken – Wie möchte ich von meinen Nachkommen erinnert werden?;
  3. Kathedralendenken – Projekte planen, die über Generationen hinweg wirken;
  4. Zukunftsszenarien entwickeln – Weitsicht fördern durch Modellierungen der Zukunft;
  5. Ziele jenseits von Wachstum und nachhaltige Lebensmodelle entwickeln;
  6. Generationengerechtigkeit – Gleichwertige Behandlung aller Menschen, inklusive der zukünftigen, die noch nicht geboren sind.

Dazu wählt Krznaric Spielarten der sogenannten „Goldenen Regel“. Ihre klassische Formulierung lautet: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ Krznaric überträgt diese Regel auch auf kommende Generationen:

  1. Behandle Menschen unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Geburt gleichwertig. Dazu hilft z.B. folgendes Gedankenexperiment: Stell dir vor, du wüsstest nicht, in welcher Generation du geboren wirst – wie sähe die ideale Welt aus?
  2. Übergib den Staffelstab so, wie du ihn gerne erhalten hättest.

Eine zukunftsgerichtete Ethik nach Krznaric braucht Empathie, Weitblick und ein neues gemeinschaftsbezogenes Denken. Auch wenn Krznaric Jonas nicht namentlich zitiert, so führt sein pragmatischer Ansatz viele Grundfragen von Jonas in einem anderen Denkrahmen fruchtbar weiter.

Eine künstlerische Perspektive auf das Thema brachte Brigitte Vieten ein. Mit acht Haikus aus dem Buch „Die Zeituhr läuft“ sowie einem poetischen Abschlusstext näherte sie sich der Fragestellung auf sinnlich-reflektierende Weise. Die kurzen Gedichte thematisieren Aufbruch, Wahrnehmung und die Bereitschaft, eigene Visionen ernst zu nehmen – stets im Bewusstsein der Grenzen und der Kraft der kleinen Schritte. In ihrem Text „Ja, aber“ ruft Vieten zur inneren Transformation auf: vom zögerlichen „Irgendwann“ hin zum entschlossenen „Jetzt“, vom passiven Abwarten hin zu aktiver Mitgestaltung.

Die anschließende Diskussion war äußerst anregend. Aus dem Publikum kamen Fragen und Gedanken aus verschiedenen Perspektiven. Einheitlich wurde festgestellt, wie wichtig dieses Thema in der heutigen Zeit ist. Die Diskussionsveranstaltung zeigte eindrucksvoll, dass die Frage nach dem Vermächtnis an kommende Generationen nicht nur eine ethische oder politische ist – sondern eine zutiefst menschliche. Sie betrifft unser Handeln im Hier und Jetzt ebenso wie unsere Vorstellung davon, wie wir zu „guten Vorfahren“ für künftige Generationen werden können.

Prof. Nguyen – Im July 2025

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